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Die Blinden
statisches Drama nach Maurice Maeterlinck

für 12 Sänger und 9 Instrumente (1984)

 Partiturausschnitt groß


Die Blinden waren nach meiner intensiven Beschäftigung mit Morton Feldmans Musik ein erster größerer Versuch, auf den Umkreis seines ästhetischen Denkens zu reagieren. Becketts Welt des Schweigens ist auch die Feldmans, und so fand ich unter diesem Blickwinkel heraus, daß es ein Theaterstück gibt, das ein Vorläufer des" Warten auf Godot" sein mußte: Maurice Maeterlincks in den letzten Jahren des 19. Jahrhundert geschriebener Einakter "Die Blinden". 12 Blinde warten auf die Rückkehr des Priesters, der sie aus ihrem Heim geführt hat. Sie warten auf Steinen sitzend, orten sich zunächst untereinander, fragen sich zunehmend, warum er wohl ausbleibt, vermuten in den verschiedensten Geräuschen, die sie umgeben, Meer, Nachtvögel, fallende Blätter, das Herannahen eines Hundes etc. Anzeichen der Rückkehr des Anführers. Der ist jedoch, so müssen sie schließlich feststellen, gestorben. Ihre Rückkehr ins Heim scheint unmöglich. Das kleine Kind einer der Blinden scheint schließlich etwas zu bemerken, was sich nähert und unter ihnen Halt macht. Es bleibt unklar, ob es die Rettung oder der Tod ist. Genau diese Schwebe am Schluß des Stücks ist wichtig für meine Lesung des Dramas, ob sie nun Freude über den Tod des Führers empfinden oder Verzweiflung angesichts des eigenen Untergangs. Eigentlich steht am Schluß des Stücks eine Durchdringung dieser beiden Emotionen. Der Weg dahin geht aus von einem langsamen Gewahrwerden ihrer Isolation zu einem erwachenden "Wir"-Gefühl.

Jeder der 12 Blinden besitzt einen Eigenton, die sechs Männer die aufeinanderfolgenden Töne einer Ganztonreihe über F, also F, G, A, H, cis, dis, mit einer je unterschiedenen Klang- und Pausendauer, ebenso die sechs Frauen über c', also c', d', e', fis', gis', ais'. Die Isolation, die Inselhaftigkeit ihres anfänglichen Zustands wird verstärkt durch eine Technik der Isolierung der Töne voneinander, sodaß jeder Ton wieder eine Insel für sich ist. Zunehmend greifen die Zwölf die Töne der anderen auf, zunächst den des jeweilig Angesprochenen. "Wo sitzt Du?" Bei zunehmend häufigeren Auftreten des Wortes "Wir" tritt eine Wendung anstelle der isoliertert Töne: h-cis'-dis'-c'-d'-e', die aus der Isoliertheit herausführt.

Zweimal hebt ein a-capella Satz an, der ein vorweggenommenes utopisches da führerloses, Gemeinschaftsgefühl suggeriert, da dort jeder der 12 jeden Ton der anderen intoniert. Diese Schein-Idylle, wird beim erstenmal abgebrochen durchsetzt mit Klängen des angstbesetzten Außen, beim zweitenmal durchsetzt von Wörtern, die Allusionen des Wortes "Angst"-"peur" sind: "peur-terre-fleur-odeur". Hier hat das französische Original eine Musikalisierung des Textes vorweggenommen, was im Deutschen nicht einholbar ist: So fungieren in ihrem onomatopoetischem Singen die drei betenden Frauen, die bei Maeterlinck keinen Text zu sprechen haben, als die Repräsentantinnen der jeweiligen französischen Parallelstelle zum gerade gesungenen deutschen Text. Die Instrumente sind Metaphern der Umweltgeräusche, die Angst und/oder Hoffnung auslösen. Die drei Kontrabässe, stehen für die Geräusche des Meeres, die Baßflöten für die der Nachtvögel, die Kontrabassklarinette für das Unbekannte unter ihnen, die drei Blechbläser (Horn, Altposaune, Tenortuba) für das Unbekannte, das sich nähert. Metaphern im strengen Sinne sind Übersetzungen, hier die eines konkreten Geräusches in einen eher abstrakten Klang, also keinesfalls Lautmalereien. Dies wollte auch Maeterlinck keinesfalls, da er sich gegen eine Präsenz des Symbolismus der Nachtvögel etc. auf der Bühne ausgesprochen hat.

Von Maeterlinck selbst stammt auch die Bezeichnung "statisches Drama", das er in einem Brief an einen Regisseur so formulierte. Überhaupt liegt dieser Umsetzung, dies ist auch im Sinne Maeterlincks, eine naturalistische Deutung des Dramas fern. Die Lesung ist vielmehr die einer extremen Stilisierungim Sinne des Meyerholdschen "bedingten Theaters", der ja Maeterlinck in der Sowjetunion in der Zeit der Revolution inszenierte. Meyerhold sprach sich scharf gegen jegliches naturalistische, Theater der expressiven Bewegungsabläufe aus, da er die Essenz eines Dramas herauskristallisieren wollte, und dies war eben nur durch wenige, aber, entscheidende Bewegungsabläufe möglich, die in geometrisch klare Figurenkonstellationen gegliedert waren, die den Eindruck einer auf das Wesentliche reduzierten, abstrakten Theatersprache vermitteln sollten, ähnlich den Bildern Malevichs.

 

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